DER RENÉ

Von Peter Ziegler

Eigentlich hieß er ganz anders,
das gefiel ihm aber nicht. Kann ja jeder heißen, wie er will.

Es sollte ein Besuchsdienst werden. Ein Mann unter sechzig in ärmlichen Verhältnissen, kommt nur wenig raus, und gut geht es ihm auch nicht. Etwas speziell, also vorgewarnt. Ich habe ihn dann angerufen und gefragt, ob das o.k. sei, wenn ich ihn mal besuche. Er ganz erfreut. Also dann bis Mittwoch. Am Mittwoch hingefahren, Wohnblock, um die Ecke Büdchen, Kiezfeeling. Geklingelt, es dauert eine Weile. René macht die Tür auf in Boxershorts und T-Shirt: „ Komm schnell rein, die Katze rennt sonst raus.“ Der Flur ein bisschen duster und etwas eng. Wir gehen ins Wohnzimmer. „ Setz dich!“ Ein paar Klamotten auf dem Sessel zur Seite geschoben und auf die Kante gesetzt, anlehnen ging nicht, auf der Lehne auch Klamotten. Das Zimmer gut ausgelastet, der Tisch voll mit Zeugs: Papierkram, Medikamente, Aschenbecher, Zigaretten. Das Sofa ebenso und René in der Mitte, kettenrauchend und Cola trinkend. Tapete und Decke gelb. Luft gesättigt. Fenster aufmachen ging nicht wegen der Katze. Können wir uns duzen? Kein Problem. Er hat dann so von seinen Problemen berichtet. Schmerzen, kann nicht weit laufen, fühlt sich schwach. Seine Mutter (85) wohnt im Nachbarhaus und die besucht er jeden Nachmittag, da schauen sie sich dann Grusel- und Kriegsfilme an. So nach einer Dreiviertelstunde habe ich mich dann verabschiedet und wir haben uns für übernächsten Mittwoch verabredet. Ich habe ihn ein paarmal besucht, dann ist seine Mutter gestorben und René wollte seine Ruhe haben. Er wurde dann depressiv, das hat er mir am Telefon gesagt. Ich habe ihn dann immer wieder angerufen und mich etwas aufgedrängelt, bis er einverstanden war, dass ich ihn wieder besuche. Neuer Anlauf. René öffnet. Sieht gar nicht gut aus. Der Tod seiner Mutter hat ihn sehr mitgenommen. René ernährt sich von einer Scheibe Brot mit Streichwurst am Tag, Cola, Nescafé und Zigaretten. Er kann nur ganz schlecht kauen. Seine Zähne mussten alle aus medizinischen Gründen entfernt werden. Er hat eine verkürzte Speiseröhre und starke Schmerzen und ihm ist immer übel. Die Wohnung ist jetzt auch noch mit der Hinterlassenschaft seiner Mutter aufgefüllt. Draußen scheint die Sonne. Heute schaffen wir es, rauszukommen. René schmeißt sich in Schale. Basecap, coole Jacke, Cargo Hose und weiße Sneaker. Wir fahren zum Schloss Favorite und spazieren eine kleine Runde. Im Gartencafe, gönnen wir uns was. René Käsekuchen, koffeinfreien Kaffee und `ne Cola. „Können wir öfter machen“, sagt er. René hat eine geschwollene Wange. Die Dame von der Pflege meint, es könnte der Zahn sein oder sowas. Nächste Woche kommt seine Haushaltshilfe, sie kann ihn zum Zahnarzt fahren. Der Zahnarzt überweist ihn zum HNO. Der Termin ist erst in zwei Wochen. René fragt sich, ob es wieder der Krebs ist. Mir ist auch nicht ganz wohl dabei und ich versuche ihn zu beruhigen. Es hat sich so eingespielt, dass wir mittwochs bei gutem Wetter in der Cité ins Rauchercafé gehen. Anschließend Katzenfutter einkaufen.

„ Komm schnell rein, die Katze rennt sonst raus“

René hat keinen Überblick mehr über seine Rechnungen und die Post. Ich soll mir das mal ansehen. Will ich das? Das Sozialamt hat ihm einen Finanzbetreuer vorgeschlagen. Als der ihn besuchen wollte, ging es René so schlecht, dass er nicht aufgemacht hat. Mittlerweile hatte er den HNO Termin. Überweisung zum Röntgen. Die Wange wurde immer dicker. Der Röntgenbefund war nicht eindeutig, Einweisung in die Kopf-, Gesichts- und Kieferchirurgie Karlsruhe. Mittlerweile ist es Herbst. René wird am Oberkiefer operiert, da wurde was entfernt. Die Ärzte sagen nicht wirklich was. Dann Geschwulst am Oberkiefer und Metastasen in der Lunge.

Nach drei Wochen Sechsbettzimmer im Krankenhaus kann René auf die Palliativstation, Hub Ottersweier. Sein Gewicht – so um die vierundfünfzig Kilo. Er will essen, bekommt nichts runter. Seine Mädels, die ihn besuchen, bringen Kuchen, Sahne und alle möglichen Dickmacher mit, von den Schwestern wird er betüttelt. Es geht ihm mal gut, dann ist er wieder ganz unten. Wir machen Fotos, er in seinem neuen Camp David Hemd. Auf Camp David fährt er ab. Von der Stadtklinik Baden-Baden kommt der Befund. Er muss wieder nach Karlsruhe zur Bestrahlung. Das kennt er, es zieht ihn noch weiter runter. Nach etlichen Tagen des Wartens – es ist Ende November – bekommt er seine erste von einundzwanzig Bestrahlungen. Pia und ich wechseln uns mit den Besuchen ab. Das gefällt dem René. Er sieht jetzt so aus, als ob er Weihnachten nicht mehr erlebt. Er macht sich Gedanken, was noch alles auf ihn zukommt, die Katze habe ich nach langem Zaudern von René untergebracht, um seine Finanzen und die Post kümmere ich mich. Er weiß, dass er nicht mehr nach Hause kann. Was geschieht mit seiner Wohnung, und wo soll er jetzt hin? Die Bestrahlungen sind abgeschlossen, die Geschwulst von Kartoffelgröße ist nur noch so groß wie eine Walnuss. Das Highlight für René ist: Theresia Schmid hat sich darum gekümmert, dass er wieder auf die Hub kann. Er ist jetzt zuversichtlich, dass ihm noch ein paar Jahre bleiben. Dass er nicht in seine Wohnung zurück kann, ist ihm aber schon klar. Für das Hospiz steht René auf der Warteliste. Sylvester kommt. Rene möchte es mit den Schwestern krachen lassen. Ich bringe ihm ein Fläschchen Piccolo mit und ein paar Knallbonbons. Dass die nicht so krachen, wie er sich das vorgestellt hat, ist wieder meine Schuld. Nach Neujahr ist es dann so weit: Verlegung nach Ebersteinburg ins Hospiz. Er bekommt das schönste Zimmer, frisch renoviert mit Balkon. Ohne Balkon geht es gar nicht bei Renés Zigarettenkonsum, und er fühlt sich wie im Hotel. So benimmt er sich auch. Mittwochsbesuch: Ich sitze mit René auf dem Balkon – Asche verteilt, Tisch verkleckert. Macht nix, wird ja morgen wieder sauber gemacht. Er klingelt nach der Schwester und bestellt dann zwei Cola. Ich konnte es nicht glauben. Im Zimmer sieht es etwas schmuddelig aus. Zucker auf dem Boden, Kaffee verkleckert, der Nachttisch mit seiner ganzen Ablagefläche voll ausgenutzt. Eine Woche später wird er in ein anderes Zimmer verlegt. Großes Theater, das Zimmer ist kleiner und der Fernseher erst recht. Es muss doch möglich sein, dass der Hausmeister den großen Fernseher in seinem Zimmer anbringt. René hätte gerne ein paar Sachen von zuhause. Seinen Fernseher, den DVD-Player, ein Regal mir seinen Engeln und Bekleidung. Die Schwestern haben ihren Segen dazugegeben, und ich bringe alles mit. Der DVD-Player ist der falsche. René ist sauer. „Das kommt davon, wenn man es nur mit Idioten zu tun hat“, O-Ton René. Mittlerweile kenne ich René ja schon eine ganze Weile und habe mich angepasst. „Komm mal schön runter, in deiner Bude sieht es so heftig aus, wie soll ich da was finden?“, mein O-Ton. Endlich hängt der Fernseher. Der zweite DVD-Player funktioniert auch nicht. Alle sind wieder zu blöd, weil keiner sich damit auskennt. Als Theresia René besucht, erfährt sie von seinem Leid und bringt ihm einen DVD-Player mit – und die Welt ist wieder in Ordnung. Samstagabends besuche ich René. Wir wollen uns „Django unchained“ ansehen. Sowas mögen wir. Nach einer halben Stunde ist René eingeschlafen. Da bin ich ihm nicht böse und fahre nach Hause. Seine über achtzig Jahre alte Tante hat René besucht und drei große Koffer mitgebracht – René braucht ja was Ordentliches zum Anziehen. Eine Freundin füllt diese auch. Jetzt wird es langsam voll im Zimmer. Wir sortieren aus. Drei paar Sneaker braucht er nicht, das sieht er auch ein. Ebenso nur ein Bruchteil der anderen Sachen.

Ich will René besuchen, er ist nicht im Zimmer. Er ist gestürzt und hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Nach einer Woche in der Stadtklinik und Nikotinentzug ist er wieder im Hospiz. Unter Schmerzen aus dem Bett in den Rollstuhl und ab auf den Balkon zum Rauchen, Cola und Kaffee trinken. Mit dem Essen klappt es so gut wie gar nicht. Ihm ist ständig übel, was bei dieser Diät auch nicht verwundert. Ein paar Wochen später stürzt René erneut, seine Hüftgelenkprothese rutscht aus der Gelenkpfanne. Er ist jetzt bettlägrig. Die Schwestern bugsieren ihn auf den Balkon zum Rauchen, womit sein Arzt überhaupt nicht einverstanden ist. René kann nicht mehr raus zum Rauchen, er ist total unten, sieht nicht mehr fern, was ja sein Hobby war und hat keinen Lebensmut mehr. Gegen seine starken Schmerzen bekommt er hochdosierte Medikamente. René ist kaum noch ansprechbar. Als ich ihn am Mittwoch besuchen will, ist er am Morgen gestorben. Ich verabschiede mich von ihm, räume sein Zimmer aus, bringe seine Sachen in seine Wohnung und gebe die Wohnungsschlüssel auf dem Standesamt ab.

René war mittelos. Er wird zusammen mit zehn anderen Urnen einige Wochen später beigesetzt. Es ist eine kleine Trauergemeinde: Seine Schwester, seine Nichte, eine Freundin, Theresia Schmit und ich sind gekommen, um uns ein letztes Mal von René zu verabschieden. Pfarrer Arno Knebel, der ihn im Hospiz begleitet hat, erwähnt ihn als einen liebenswerten Menschen, der einen mit seinen braunen Augen schon um den Finger wickeln konnte. In den eineinhalb Jahren, in denen ich ihn begleitet habe, ist eine Freundschaft entstanden, in deren Verlauf wir beide sehr offen und ehrlich miteinander umgegangen sind. René hat mir erzählt, wie er sich um den Dienst bei der Volksarmee so gut herumgeschlichen hat, dass er nicht mehr würdig war, das Ehrenkleid der DDR zu tragen, er erzählte auch von seinen Tagen als Botschaftsflüchtling in Prag. Bei wichtigen Männergesprächen haben wir uns ganz gut amüsiert. René war ein Mensch, den niemand, der ihn kannte, vergessen wird.

AUFRECHT

Von Renate Effern

Obwohl er nach seinem Unfall gelähmt war, ist mein Mann aufrecht von mir gegangen. Als er noch bei Bewusstsein war, hat er versucht mir zu sagen, dass er nicht länger bleiben könne.

Die letzte Nacht konnte ich glücklicherweise bei ihm sein. Ich schlief sogar eine Weile, und ich hatte einen Traum: wir gingen durch einen Eukalyptuswald auf einer griechischen Insel, er vorneweg, wie wir es immer getan hatten, wenn wir auf Reisen waren. Er fand immer den Weg. In meinem Traum sind wir nirgendwo angekommen.

Am Morgen ist er gestorben.

Die Zeit, so heißt es, heilt alle Wunden. Das stimmt nur bedingt. Auch jetzt, nach beinahe acht Monaten, ist mir sein Tod in manchen Augenblicken noch sehr nah. Viel öfter aber sehe ich ihn als lebendigen Menschen vor mir, so wie ich ihn in all den Jahren kannte: als kräftigen, unternehmungslustigen, gut gelaunten Mann.

Die Zeit, in der er schon krank und zunehmend schwach war, in der er niemals zugab, wie schlecht es ihm wirklich ging, blende ich aus. Ich begegne ihm: in der Wohnung, in der Stadt, aufrecht und fröhlich. Wieviel Positives haben wir zusammen erlebt! Wie viele Träume hat er mir erfüllt! Mein Leben schien bereits auf das Ende zuzugehen, ich war unglücklich, hatte gar nichts erreicht. Er ermöglichte mir einen neuen Anfang auf dem ich, mit seiner Hilfe, aufbauen und sogar erfolgreich sein konnte. Und ich hatte eine „Bezugsperson“. Ist dieser „Bezug“ jetzt für immer verschwunden?

Nein, keineswegs. Der Bezug ist heute ebenso stark wie früher. Nichts von dem, was wir gemeinsam aufgebaut haben, ist verloren gegangen. Und alles, was ich jetzt vielleicht noch schaffen kann, ist ebenso sein Verdienst. Seine positive Energie hilft mir jeden Tag.

Um mich an ihn zu erinnern, brauche ich nicht so viele Fotos, nicht so viele Andenken. In meiner Erinnerung ist er lebendig. Er ist mir sehr nah. Und ich weiß ganz sicher: er möchte nicht, dass ich mich in der Trauer vergrabe, dass ich unglücklich bin.

ALS MUSIKANT IM PFLEGEHEIM

Von Roland Sackmann

Es ist Nachmittag, ich bin auf dem Weg ins Pflegeheim Maria Frieden. Seit zwei Jahren fahre ich regelmäßig mit meinem Akkordeon und einem Stapel Noten in zwei Pflegeheime, um gemeinsam mit den Bewohnern und Angehörigen zu singen.
Die Schwester an der Pforte freut sich und sagt mir, dass die Bewohner schon auf mich warten. Ich bin noch gut in der Zeit, höre aber schon beim Kommen den Satz: „Der muss halt noch schaffe, aber komme dud er“.

Mein lautes Hallo lässt die Gesichter aufleuchten. Die Alltagsbegleiter haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Der ganze Aufenthaltsbereich sitzt voll mit singlustigen Bewohnern und zum Teil deren Angehörigen. Die meisten Bewohner sind noch mobil und kommen mit ihren Rollatoren zum Singen. Andere werden in ihren Rollstühlen von ihren Zimmern gebracht. Es ist jedes Mal eine logistische Meisterleistung, alle Menschen zu einem festen Zeitpunkt an einen Ort zu bringen.

Wir verteilen die Liederbücher, eine wunderbare Leihgabe eines Heimatvereins in der Region. Alle Texte und Noten sind handgeschrieben. Die große Schrift macht es den Menschen einfacher zu lesen und zu singen. Die Lieder sind durch – nummeriert, anhand der Nummern können einzelne Lieder gewünscht und gemeinsam gesungen werden. Sofort gehen die ersten Wünsche ein, unsere Singstunde beginnt. Das Repertoire besteht aus verschiedenen Liederbüchern, Volkslieder, Seemannslieder und alte Schlager. Am beliebtesten sind immer die Volkslieder, da sie bei den älteren Bewohnern tief in der Biographie verwurzelt sind. Manche Wünsche gehen über das Liederbuch hinaus. Es erstaunt mich im – mer wieder, dass so viele Lieder mit allen Strophen auswendig und mit Inbrunst gesungen werden

SO VIELE ERINNERUNGEN WERDEN MIT DEM SINGEN WACH

Berührend sind für mich die Erzählungen einzelner Bewohner in Bezug auf ihre Liederwünsche. So viele Erinnerungen werden mit dem Singen wach und wollen erzählt werden. So erfahre ich oft ganz intime Geschichten aus dem Leben der Menschen, Frohes und Trauriges, Erfahrenes und nicht Gelebtes.

Die Essenz der Volkslieder beinhalten Ankommen, Leben, Arbeit und Sterben. Die Texte vermitteln auch immer Dankbarkeit an das Leben. Für die betagten Bewohner sind die Texte oft wie ein Rückblick über ihr Leben, gespeist mit Erinnerungen an ihre Jugend, die Kriegszeiten, an das Leben mit all seinem Weh und Ach. Musik ist für mich etwas Heilsames. Musik berührt die Menschen und verbindet sie miteinan – der. Eine ältere Dame hat folgendes zu mir gesagt: „Mein Sohn bringt mir immer CDs mit sehr schöner Musik mit ins Pflegeheim. Diese Musik erreicht mein Herz. Ihre Musik erreicht meine Seele.“

Eine Stunde Singen ist schnell vorbei, und ich werde nur entlassen mit dem Ver – sprechen, gewiss wiederzukommen. Erfüllt gehe ich in den Feierabend mit dem Wissen, übermorgen spiele ich im Pflegeheim Schafberg. Wunderbar, einen so schönen Platz im Leben gefunden zu haben.

DIE DRINGLICHKEIT DER ZEIT

Von Silke Dunkmann

– Sechs Wochen Leben im Angesicht des Todes, und das Leben danach –

„Es ist nicht mehr viel Zeit. Der Wert dessen, was jetzt ist, was jetzt möglich ist und was jetzt gerade geschieht, wird dafür umso wichtiger.“

Nachdem mein Mann den Dezember 2018 im Klinikum Karlsruhe verbracht hat, wo intensiv gesucht und schließlich auch gefunden wurde, erhielten wir drei Tage vor Weihnachten die Diagnose „Glioblastom IV“, ein bösartiger Hirntumor, der schnell und aggressiv wächst. Der Oberarzt klärte uns sehr gut, verständlich und ehrlich darüber auf, dass der Tumor aufgrund seiner Lage nicht operativ entfernt werden kann und auch weitere Therapien keine Heilungsaussichten bringen, uns bliebe nicht mehr viel Zeit. Walter und ich haben uns schnell und einvernehmlich auf eine palliative Versorgung zuhause geeinigt, ich würde ihn am nächsten Tag in Karlsruhe abholen und nach Hause bringen. Wie ich an diesem Tag zurück nach Baden-Baden gekommen bin, unsere drei Kinder, Familie und Freunde informiert habe, weiß ich nicht mehr genau. Der Boden wird plötzlich weggezogen, man fällt quasi ins Bodenlose, will und kann es nicht verstehen, mit 47 Jahren Witwe mit drei Kindern, nach 23 Ehejahren? Wir hatten doch noch so viele Pläne…

Am nächsten Tag begann die Zeit, die unsere älteste Tochter, als „schön- schreckliche“ Zeit, betitelt hat, ein SAPV Team vom Palliativ- Team Mittelbaden, welches 24h erreichbar ist, stand uns zur Seite. Wir lernten Manuela Huck, Koordinatorin des „PaTe“, kennen, die in den nächsten sechs Wochen unsere Ansprechpartnerin und sehr enge Vertraute wurde. Walter erhielt eine Basismedikation sowie eine schnell wirkende Bedarfsmedikation, unser langjähriger Hausarzt Dr. Patrick Fischer übernahm die ärztliche Versorgung. Nicht nur Walter wurde betreut, sondern wir als ganze Familie wurden von Anfang an in sämtliche Vorgehensweisen der Behandlung integriert, mit intensiven Gesprächen unterstützt und immer wieder ermutigt unsere offene und ehrliche Form der Kommunikation beizubehalten. Damit ist es uns gelungen, von Beginn an, die Sicherheit zu erlangen, alles Menschenmögliche für Walter getan zu haben, allerdings wird dies erst im Nachhinein wirklich wichtig, in dieser Zeit war es selbstverständlich. Diese sehr emotionale Phase hat uns als Ehepaar und Familie noch enger zusammengeschweißt, die Zeit, die man nur Zuhause füreinander haben kann, war sehr wichtig für uns, um das Unausweichliche zu begreifen, zu akzeptieren – vermutlich hatten wir in den ganzen Jahren zuvor nicht ansatzweise eine so intensive Zeit miteinander verbracht. Unsere Familie, Verwandte und Freunde hatten in den sechs Wochen die Gelegenheit sich in Ruhe zu verabschieden und Walter konnte im häuslichen Umfeld seine Freiheit und Würde bewahren. Wir haben zum Beispiel immer gut gegessen, gegrillt, nächtelang geredet, abends einen Whiskey oder ein Glas Wein miteinander getrunken und Walter hat, wann immer er Lust hatte, im Garten einen Zigarillo geraucht. Sogar ein paar kleine Ausflüge konnten wir, im Rahmen seiner Möglichkeiten, noch unternehmen. Wir lernten in dieser Zeit auch Theresia Schmid, die Koordinatorin des ambulanten Hospizdienstes, kennen, die uns Unterstützung bei der Betreuung anbot und den schönen Vorschlag hatte, uns ein großes Pflegebett zur Verfügung zu stellen, damit wir zusammen darin liegen können. Leider sollte es hierzu nicht mehr kommen, denn Walters Zustand verschlechterte sich rapide, nachdem unser Sohn Ende Januar seinen 18. Geburtstag gefeiert hat, die Durchbruchschmerzen wurden schlimmer, die Krampfanfälle traten zunehmend auf.

In der Nacht zum 04.02.2019 ist Walter, genau zwei Monate nach seinem fünfzigsten Geburtstag, zuhause verstorben, wir waren alle bei ihm. Auch Manuela stand uns in dieser Nacht zur Seite und hat uns mit ihrer Art und Erfahrung sehr unterstützt. Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemanden halten oder streicheln könnte, während er stirbt, aber ich konnte es, und ich bin unendlich dankbar, dass wir diese Möglichkeit hatten.

September 2018, letzter gemeinsamer Urlaub in den Pyrenäen

Das Leben danach …

Ein paar Tage nach Walters Tod und traf ich mich das erste Mal mit Theresia zum Gespräch, nicht ahnend, dass wir uns in diesem Jahr noch oft zur Trauerbegleitung sehen würden. Bei den ersten Treffen war es eine große Erleichterung für mich zu hören, dass ich nicht depressiv oder dement bin und auch kein Fall für die Psychiatrie darstelle, sondern einfach „nur“ trauere. Und diese Trauer ist anfangs so mächtig, dass man inständig hofft, dass es eine Phase ist, über die man einfach nur hinwegkommen muss, ein Defekt, ein Schaden, den man beseitigen kann, weil man spürt, dass es auf Dauer nicht zu ertragen ist. Man versucht und wünscht sich die Trauer zu beherrschen, zu kontrollieren, aber genau das ist nicht möglich. Man verliert nämlich nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft, in der man noch so viele gemeinsame Pläne und Träume hatte. In den vielen Gesprächen, in denen ich geweint, viel nachgedacht aber auch gelacht habe, wurde schnell klar: Trauer ist so unterschiedlich und individuell wie die Liebe, hat ebenso viele Facetten, darf alles, muss nichts. Diese Facetten reichen von Schock, Liebe, Ohnmacht, Dankbarkeit, Unglaube über Sehnsucht und Hoffnung, das alles schlägt schnell um, verändert sich und man versucht damit umzugehen, auf seine ganz eigene Art. Viele Fragen drängen sich auf, nur die Frage nach dem „Warum“ habe ich mir nie gestellt, darauf gibt es einfach keine Antwort. Durch diesen Prozess hat Theresia mich mit ihrem großen Einfühlungsvermögen, ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer Empathie begleitet, bestärkt und unterstützt.

Irgendwann verändert sich die Trauer, sie bleibt bestehen, aber die Intensität nimmt ab, man wendet sich wieder der Zukunft, dem Leben zu, auch hier war Theresia an meiner Seite und die Trauerbegleitung wandelte sich zu einer Beratung, einem Coaching.

In dem letzten Jahr war es sehr wichtig einen stabilen Freundeskreis, eine intakte Familie und einen großen Bekanntenkreis zu haben, ganz verschiedene Menschen mit großen Herzen, die in all ihrer Unterschiedlichkeit so wertvoll und unentbehrlich sind, danke an alle, ohne euch wären wir nicht da, wo wir jetzt stehen. Sehr hilfreich war es auch, sich mit anderen Trauernden auszutauschen, diese Möglichkeit bietet sich nicht nur in diversen Foren im Netz, sondern auch in Trauergruppen oder bei dem monatlichen Trauerfrühstück vor Ort.

Schwierig ist es allerdings, nach wie vor, mit dem Verlust des Verbindlichen umzugehen, man unterscheidet ziemlich radikal zwischen dem, was wesentlich ist, und dem Rest. Dies führt dazu, dass man Menschen anderes begegnet und mittlerweile ein paar Freundschaften verloren, aber auch einige neu hinzugewonnen hat.

Nun haben wir, meine Kinder und ich das erste Jahr ohne Walter geschafft, ein emotionales, trauriges und anstrengendes Jahr. Trotzdem gab es viele schöne Momente, Reisen, Erlebnisse und Begegnungen – Gespräche, Erinnerungen und Aufbrüche.

Das Leben geht weiter, wir versuchen alle, unseren neuen Weg zu finden.

Zum Schluss noch eine Bitte:

  • Versucht uns nicht mit Erinnerungen und Gesprächen verschonen zu wollen, um uns nicht aufzuwühlen, wir sind schon aufgewühlt.
  • Sprüche wie, „Die Zeit heilt alle Wunden“, „Wenn sich eine Türe schließt, öffnet sich eine andere“, „Lieber ein Ende mit Schrecken…“, „Du bist ja noch jung, du findest bestimmt schnell einen anderen…“ sind sicherlich nett gemeint, kann man sich aber ganz getrost sparen.
  • Wenn es auch vielen Menschen angesichts des Todes die Sprache verschlägt: ein „Herzliches Beileid“, eine Umarmung, ein Händedruck oder ein Blick geht immer, man muss nicht gleich die Straßenseite wechseln – wir leben nämlich noch.
  • Seid einfach für uns da, auch wenn wir manchmal gar nicht wissen, dass wir euch ganz dringend brauchen.

DAHEIM STERBET D´LEUT

Von Andreas Dick

„Zuhause sterben die Menschen“, das war der Titel eines Allgäuer Regionalfilms, in dem es vor allem auch um den Verlust der „Heimat“ ging. Sterben ist das große Verlieren, das große Loslassen im Leben. Wird es leichter ertragbar, wenn es „zuhause“ stattfindet?

Meine Mutter und ich haben in den vergangenen zwei Jahren die Hälfte unserer Familie gehen lassen müssen: 2015 starb mein Vater in einem großen, lichtdurchfluteten Zimmer eines Pflegeheims; 2016 mein Bruder in einem mobilen Pflegebett in seinem eigenen Zimmer. Beide Abschiede waren schmerzlich, aber in ihrer Gesamtheit stimmig – und dadurch leichter zu tragen.

Demenz ist eine gemeine Krankheit: un-menschlich im Sinne des Wortes. Sie raubt ihren Opfern das, was sie als Mensch ausmacht: zuerst ihre Erinnerungen, allmählich ihren Charakter und zuletzt die Persönlichkeit. Meinen Vater traf sie in seinen letzten drei, vier Lebensjahren, ab Ende seiner Siebziger. Anfangs fehlten ihm die Worte – aus „Olympiade“ wurde „Ovomaltine“ –, dann verwirrte sich sein Reden, dann das Zeitgefühl. Und wenn meine Mutter ihm nachts um drei Uhr verweigern wollte, zur Arbeit zu gehen, beschimpfte er sie. Im letzten halben Jahr beschleunigte sich der Abbau, und als er immer öfter die Hand erhob und auch den ambulanten Pfleger bedrohte „ich bring dich um“, musste meine Mutter erkennen, dass es endlich Zeit war, dem Drängen von mir und meiner Frau nachzugeben und ihren Mann in professionelle Pflege zu geben. Traurig verabschiedeten wir uns von ihm im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Emmendingen, wo er medikamentös „eingestellt“ werden sollte, um in einem normalen Pflegeheim „führbar“ zu sein – aber auch Mama wusste, dass es keinen anderen Weg mehr gab.

Nach drei Wochen im PLK stürzte er beim nächtlichen Toilettengang – ihn im Bett zu fixieren, hatte man ihm nicht antun wollen. Glücklicherweise war ich zu Ostern zu Besuch zu meiner Mutter gekommen. Als der Anruf am Ostersonntag morgens um sechs Uhr kam, nahmen wir uns in die Arme. Eine Freundin kam, um meinen behinderten Bruder zu betreuen, und wir fuhren ins Krankenhaus. Schwer und hohl atmend lag er da in seinem bewusstlosen „Schlaf“, und der Tod war mit im Raum. Die Patientenverfügung, die meine Eltern vor Jahren unterschrieben hatten, erleichterte das Gespräch mit dem Arzt: Wenn mein Vater ohne maschinelle Unterstützung noch einmal ins Leben zurückkehren wollte, wäre es gut; wenn nicht, dann auch. Und trotz seines Komas zeigte er, welchen Weg er nehmen wollte, indem er sich die Infusionskanüle aus dem Arm zog.

Um ihn auf seinem Sterbenspfad besser begleiten zu können, ließ meine Mutter ihn ins Pflegeheim Schafberg verlegen, wo sie ihn besuchen und die Nächte bei ihm verbringen konnte, während mein Bruder tagsüber in der Behindertenwerkstatt oder nachts im Bett war. Papa bekam ein ruhiges, großes Zimmer mit großem Fenster auf Frühlingswiesen und in den Schwarzwald – eine wunderbare Aussicht für einen Gärtner und Bergsteiger, auch wenn seine Augen nichts mehr sahen.

Professionelle Begleitung erleichterte ihm und uns die letzte Woche: zunächst die Antwort auf die Befürchtung: „Ohne Infusion? Da verdurstet er ja!“ Nein: Im Sterbeprozess verbraucht der Körper allmählich die Flüssigkeit, aus der er zu 90% besteht, ein Durstgefühl besteht nicht mehr, nicht zuletzt dank der Schmerzausschaltung durch Morphium. Wichtig ist nur die Mundpflege mit Feuchtigkeit und Fett (Butter), um trockene, aufplatzende Lippen und Mundhaut zu verhindern. Diese Pflege konnten wir teilweise selber leisten, aber auch das Personal des Pflegeheims und die Helferinnen vom ambulanten Hospizdienst kümmerten sich liebevoll um den Schwindenden. Körperpflege, Waschen, regelmäßiges Umlagern machten sie routiniert und gleichzeitig sanft und mit Respekt. Mein sterbender Vater behielt seine Würde, und sein Gang hin zum Tod verlief ruhig und naturgemäß, der Gang der Welt, wenn auch schmerzlich für uns Angehörige.

Es ist ein großes Geschenk, sich von einem Menschen auf diese Art verabschieden zu dürfen – nicht hinter Maschinen und Schläuchen versteckt und nicht nach der plötzlichen Nachricht von einem Unfall. Das letzte Wochenende verbrachte ich mit meiner Familie, meiner Mutter und dem sterbenden Vater. Gelegenheit, Unausgesprochenes auszusprechen, Frieden zu schließen, Verletzungen zu heilen, die zwischen Menschen entstehen können. Verwandte und Freunde kamen, um Abschied zu nehmen, man weinte gemeinsam, es entspannen sich gute, tiefe Gespräche. Am Montag waren Theresia Schmid vom Hospizdienst und der evangelische Pfarrer zu Besuch und wir sangen und beteten zusammen. Auf ihr Anraten brachten wir meinen behinderten Bruder nachmittags ans Sterbebett. Matthias kann nicht reden und wir verglichen seinen Entwicklungsstand immer mit dem eines etwa einjährigen Kindes. Aber er musste nicht reden mit seinem Vater: ohne Worte nahmen sie Abschied von einander, und die Falten des Schmerzes, die das Gesicht meines Bruders furchten, werde ich nie vergessen. Danach gab meine Mutter ihm zuhause das Abendessen und legte ihn ins Bett – während sie weg waren, machte mein Vater mir sein Abschiedsgeschenk: seine letzten Atemzüge in meinen Armen.

Vielleicht gibt es tatsächlich so etwas wie gebrochene Herzen. Nach dem Abschied am Sterbebett des Vaters war mein Bruder monatelang gedämpft. Sonst hatte er gerne gesungen: lalala mit Melodien von „Im Märzen der Bauer“ bis „Ihr Kinderlein kommet“. Nun war er verstummt. Auch ich, sonst cool, pragmatisch und stark, fühlte mich schwächer und verletzlich. Aber wir „normalen“ Menschen können die Logik annehmen, dass alles Lebende auch sterben muss, können Schmerz allmählich in liebendes Erinnern umwandeln, können nach vorne blickend weiter leben. Diese rationale Verarbeitung war für Matthias nicht möglich. Ein Fundament seines Lebens war plötzlich weggebrochen, das Elternteil, das für lausbubenhaften Überschwang stand. Seine zweite Säule, die liebende Mutter, konnte diese Leere nicht füllen, zumal da sie selbst in Trauer war.

Zehn Monate nach Papas Tod feierten wir Matthias’ fünfzigsten Geburtstag in seiner Behindertenwerkstatt; er sang gelegentlich wieder, suchte aber auch öfter als sonst eine Schulter zum Schmusen. Drei weitere Monate später rief meine Mutter an: Matthias war in der Werkstatt auf einem Kaffeefleck ausgerutscht und gestürzt, konnte nicht mehr auf sein Bein stehen und lag nun im Krankenhaus. Ich selber war mit frisch implantierter Hüftprothese und gerade erfolgter, schmerzender Hämorrhoidal-OP nicht gut mobil und bat sie, zu versuchen, ohne meine Hilfe auszukommen. Eine Nichte, die im Sozialdienst arbeitet, und eine Schwester gaben ihr Unterstützung, als die Ärzte zwar an Matthias’ Bein keine ernste Verletzung entdeckten, aber Herzrhythmusstörungen diagnostizierten. Die Medikamente dagegen wollte er nicht schlucken, auch sonst nichts essen und trinken; meine Tante sagte am Telefon: „Vielleicht hat er einfach keine Lust mehr.“

Als nach drei Tagen meine Mutter morgens anrief und sagte: „Wir wollen ihn doch nicht an eine Maschine hängen“, setzte ich mich ins Auto und fuhr los. Nach drei Stunden war ich von München in Baden-Baden angekommen und erlebte ein Déjà-vu: Mit blickleeren, getrübten Augen lag Matthias klein und dünn im Bett, die Wangen eingefallen. Auch Theresia Schmid war wieder da. Wie sein Vater hatte sich auch Matthias die Kanüle für die künstliche Ernährung herausgezogen – offensichtlich war er am Ende seines Lebenswillens.

Meine Kusine vom Sozialdienst hatte die gute Idee und organisierte ein Pflegebett für Matthias’ Kinderzimmer zuhause, und so konnte meine Mutter ihr Kind in seiner gewohnten Umgebung durch seine letzten Tage begleiten. Theresia und ihre Kolleginnen vom ambulanten Hospizdienst kamen regelmäßig vorbei, um sie bei den nun schon bekannten Pflege-Aufgaben zu unterstützen: Umlagern, Wickeln, Mundpflege. Und es zeigte sich, dass Sterbebegleitung zuhause auch machbar ist und keine Ängste hervorrufen muss. Sogar das schmerzstillende Morphiumpflaster konnte meine Mutter ihrem Sohn nach ärztlicher Verordnung geben. Ja, vielleicht ist das Sterben zuhause sogar noch harmonischer: Meine Mutter war nicht, wie beim Tod meines Vaters, immer hin- und hergerissen zwischen den häuslichen Aufgaben und dem Wunsch, am Sterbebett zu sitzen. Bei Matthias konnte sie quasi beiläufig immer wieder nach dem Rechten sehen und nebenher die heimischen Lebensabläufe zumindest am Laufen halten. Telefonisch waren wir in Verbindung; meine eigene Reha und berufliche Verpflichtungen hatten mich zurück nach München getrieben.

Waren es drei oder vier Tage? Irgendwann fühlte ich, dass ich wieder nach Matthias schauen wollte. Und als ich in sein Zimmer kam, spürte ich, dass ich keinen Tag zu früh dran war. Der Tod war greifbar. Die Rituale waren nun schon bekannt, fast vertraut, und doch so präsent und persönlich: Matthias sanft umlagern, die Lippen befeuchten; Schweigen und Reden mit Verwandten, die zum Abschiednehmen kamen; ein Betreuer aus der Behindertenwerkstatt brachte eine Kette mit Glöckchen, die sie ihm gebastelt hatten. Und wieder war Theresa mit dabei, als der junge Pfarrer mit uns einen Sterbesegen betete.

Nachts um elf ging Matthias’ Atem schon schwerer. Aber irgendwann muss man auch mal schlafen; zumal meine Mutter, die in der vorherigen Nacht stundenlang an seinem Pflegebett gebetet hatte und nun auf der Couch neben ihm einschlief. Kurz nach Mitternacht weckte sie mich: „Ich glaube, Matthias atmet nicht mehr.“ Er hatte die Stille vorgezogen für seinen Abschied.

„Ihr könnt mich jederzeit anrufen, wenn es nötig ist“, hatte Theresia gesagt. Keine halbe Stunde später war sie da – und riet uns, das stille Gedenken, in dem wir auf sie gewartet hatten, noch etwas auszudehnen: „Jetzt gibt es keine Eile“. Dann, als Mama so weit war, half Theresia ihr, ihren Sohn zu waschen und ihm sein Lieblings-T-Shirt anzuziehen. Eine letzte Liebeshandlung, die bei meinem Vater das Pflegeheim-Personal übernommen hatte. Friedlich, wie im Schlummer, lag Matthias auf seinem Todesbett – in seinem Kinderzimmer, das vom Licht der Morgensonne erleuchtet war, verbrachten wir mit einigen Trauerbesuchern einen stillen Abschiedsmorgen.

Meine Mutter lebt nun allein im großen Haus und arbeitet tapfer daran, ihrem Leben neue Inhalte neben dem Altvertrauten zu geben. Die Trauer der beiden Todesfälle im Jahrestakt braucht Zeit zum Verarbeiten; eine leise Melancholie, die sich in mein Leben gemischt hat, begrüße ich als Echo der Liebe zu Vater und Bruder. Und ein Trost besteht gewiss: Wenn man schon sterben muss – und daran führt leider kein Weg vorbei – dann war die Art, wie Papa und Matthias es durften, sicher eine der besten denkbaren. Wertvoll dafür ist die Patientenverfügung, die unnötige Behandlungen und Interventionen vermeidet und einen ruhigen, würdevollen Abschied erlaubt. Eine große Hilfe waren die kompetenten Pflegerinnen und Pfleger im Pflegeheim und vor allem des ambulanten Hospizdienstes. Und wo man dann stirbt, ob im Heim oder Daheim, das ist dann weitgehend nebensächlich. Von Liebe begleitet sterben, darauf kommt es an.

DAHEIM, IN UNSEREM „NEST“ – DORT IST MEIN RÜCKZUGSORT

Von Renate Hausschild

1994, gerade war Weihnachten vorbei, lernten wir uns kennen. Wir hatten beide Jahrzehnte des Lebens hinter uns – Gabriele 48jährig, ich, Renate 43jährig. „Wir sind nicht vom Himmel gefallen“, so sagten wir uns augenzwinkernd, wenn es mal schwierig wurde, sich zusammen zu raufen.

Beide sehnten wir uns nach Vertrautheit, nach Bedingungslosigkeit, ja auch nach Vervollkommnung im und durch ein liebevolles Miteinander. Bald war uns bewusst: „wir wollen zusammen alt werden“

Wir hatten erst wenige gemeinsame Monate erlebt, als unsere noch junge Zweisamkeit auf die Probe gestellt wurde. Ein bösartiger Brusttumor wurde bei Gabriele diagnostiziert. Schnelles Handeln wurde angeraten, und eine rasche Therapie im Frühstadium ließ uns auf Heilung hoffen.

Jahre glücklicher Verbundenheit flossen im Bewusstsein des Geschenks, uns gefunden zu haben, dahin. Wie wir es uns wünschten, wuchsen wir immer stärker zusammen, befruchteten uns gegenseitig und erlebten uns in unserer Vielfalt. Wir unternahmen viele interessante Reisen, die uns große Freude brachten. Besonders der französische Atlantik lockte uns immer wieder an. Der Blick zum Horizont, die Weite des Meeres, das Rauschen der Wellen – Ein Genuss für unsere Seelen.

Gabrieles Heimat, der Schwarzwald mit seiner Schönheit, wurde mir, der Berlinerin, von Gabriele voller Begeisterung facettenreich gezeigt. Ich kümmerte mich um die Stillung der kulturellen Bedürfnisse. Wir besuchten Museen, Konzerte, Theater, Vorträge usw.

Überschattet wurde unser Glück 2008 – Eine Kontrolluntersuchung brachte den Schock, Lebermetastasen wurden bei Gabriele diagnostiziert. Ich, Krankenschwester, saß nächtelang am PC und suchte nach medizinischer Hilfe. Die Hepatologie der Universitätsklinik Mainz war bereit, Gabrieles maligne Tumore operativ zu entfernen. Mit bewundernswerter Disziplin erholte sich Gabriele von dem schweren Eingriff. Ich, so oft es möglich war, stand ihr zur Seite. Gegenseitig machten wir uns Mut, und bestärkten uns in der Zuversicht: „Alles wird gut“! Unser Bewusstsein, „Alles Leben und Lieben muss jetzt geschehen“ – O-Ton Gabriele – nahm an Bedeutung zu.

Eine latente Ungewissheit schlummerte tief in uns, machte manchmal Angst, schweißte uns aber auch noch weiter zusammen.

Gabriele entwickelte sich immer stärker zu unserer Küchenchefin und zauberte die köstlichsten Variationen zu unserem Genuss. Gutes, gesundes Essen, Bewegung in der Natur und Wellness – so sollte die Immunabwehr keinen Mangel haben.

Ausflug in die Pfalz

Leider kam der Krebs zurück – Gabrieles Tumormarker stiegen an, und 2016, nachdem ich verzweifelt durch diverse Nahrungsergänzungsstoffe und alternative Methoden versuchte, diesen entgegen zu wirken, war klar: es gibt keine Heilung mehr! Eine Chemotherapie könnte die Krankheit zum Aufhalten bringen, so die Aussage der Onkologen. Gabriele ließ sich tapfer darauf ein. Wir unterstützten uns beide gegenseitig im Gefühl der Hoffnung. Nebenwirkungen stellten sich ein. Das „Hand-Fuß-Syndrom“ wurde zu einer großen Belastung für Gabriele. Die ärztliche Äußerung, dass bei dieser intensiven Auswirkung die Krebszellen auch besonders angegriffen werden, erhöhten Gabrieles und meine positive Erwartung. Infolge mal guter, mal belastender Untersuchungsergebnisse durchlebten wir „Wechselbäder“ banger Gefühle. Mut und Verzweiflung lösten sich ab. Aber immer wieder bestärkten wir uns durch die Einstellung: „wir geben nicht auf“.

Im letzten Quartal 2017 wurde Gabriele zunehmend schwächer. Die Chemotherapie konnte nicht fortgesetzt werden. Gabriele zog sich spürbar zurück, sprach auch immer weniger. Ihre Stimme hatte durch die Schädigung der Schleimhäute an Kraft verloren.

Gabriele setzte sich mit dem deutlich werdenden nahen Ende ihres Lebens tapfer auseinander und begann es zu akzeptieren. Sie sagte mir liebevoll: „So lange du lebst, ist meine Energie bei dir“.

Ich durchlebte quälende Gedanken und Gefühle. Das Leid meines geliebten Menschen und die Angst vor dem drohenden Verlust, ließen mich nicht ruhen. Ich verdrängte die sichtbare Realität, war noch nicht bereit anzunehmen.

Wir erlebten, wie zum Trotz, Weihnachten noch in einem Gefühl von etwas Festtagsstimmung – speisten fürstlich im Kurhausrestaurant und stellten zu Hause eine innige Gemütlichkeit her. Wir sprachen nicht viel, schauten uns verstehend an und fühlten tiefe Dankbarkeit und Vertrautheit.

Sylvester verließ uns die Kraft. Wir empfanden so etwas wie „Endzeitstimmung“. Wir nahmen tiefe Traurigkeit wahr, verständigten uns darüber nonverbal, stets darauf bedacht, das Leid in der Anderen nicht zu vermehren.

Ich empfand lähmende Verzweiflung, wollte und konnte noch immer nicht akzeptieren, befand mich in Not beim Anblick der sichtbaren Abnahme Gabrieles Vitalität. Ich hatte häufiger das Bedürfnis zu flüchten, konnte schwer aushalten und ertragen. Gabriele bestärkte mich darin raus zu gehen, die Natur zu genießen. Wenn ich es dann tat, hatte ich daran keine Freude. Es machte mich sehr traurig, dass Gabriele keinen Anteil daran haben konnte. Kaum war ich zurück, wollte sie einen ausführlichen Bericht über meine Erlebnisse bekommen. Gabriele fühlte dabei ein Stück Lebendigkeit in sich aufkeimen. Sie zeigte mir ihre Freude darüber, dass ich Abwechslung haben konnte. Ich spürte auch, dass Gabriele viel Zeit für ihre Ruhe benötigte.

Im Januar 2018 riefen wir den Notarzt. Gabriele litt unter akuter Atemnot und wurde in der Stadtklinik stationär aufgenommen. Die Worte des Arztes „wir können nichts mehr für Sie tun“, trafen uns schmerzhaft, aber nicht unerwartet. Gabriele sagte liebevoll und gefasst zu mir: „ich gehe auf die große Reise, weißt du, was ich meine?“ Ich nickte wie in Trance – weiter sagte sie zu mir: „es tut mir so leid für dich“ und ich erwiderte liebevoll: „es tut mir so leid für dich“ – wir schauten uns fest und verstehend in die Augen.

Ich verbrachte die meiste Zeit der Tage bei Gabriele, schlief auch manchmal in ihrem Zimmer, in dem für mich bereit gestellten Bett. Meistens übernahm ich Gabrieles Körperpflege. Sie wollte sich am liebsten von mir betreuen lassen.

Gabriele erholte sich in der Stadtklinik so weit, dass eine Verlegung nach Ottersweier, auf die Palliativstation im Weinbrennerhaus, veranlasst werden konnte. Ich war bei der Entscheidung nicht anwesend und sträubte mich zunächst dagegen. Meine Gedanken waren, dass ich Gabriele gerne zu Hause pflegen wollte. Das Klinikpersonal riet uns davon ab und empfahl uns, die Möglichkeiten der Palliativstation in Anspruch zu nehmen. Es wurde auch betont, dass eine spätere Entlassung von dort nach Hause möglich sei. Ich beugte mich, zumal Gabriele sofort bereit war.

Bald zeigte sich, dass die Entscheidung Gabriele gut tat. Ihre Betreuung in dem neuen Bereich war fürsorglich und voller Verständnis. Auch ich wurde vom dortigen Team als Gabrieles Partnerin selbstverständlich einbezogen und aufgenommen. So zog ich förmlich mit in das Krankenzimmer ein und verbrachte die meiste Zeit des Tages und auch häufig nachts dort. Ich beteiligte mich an Gabrieles Pflege und Versorgung und wir empfanden Beide die Möglichkeit als ein schönes Gefühl der Intimität. Gabriele erhielt Krankengymnastik, psychologische Gespräche und kreative Therapie. Eine ausgewogene Schmerztherapie brachte erhebliche Erleichterung.

Palliativstation, Februar 2018

Wir konnten beide, der Krankheitssituation zum Trotz, unsere gemeinsame Zeit ungestört und nah erleben.

Der Aufenthalt auf einer stationären Palliativstation ist begrenzt, und so wurde nach 10 Tagen vorgeschlagen, dass Gabriele in den Kurzzeitpflegebereich verlegt werden könne. Diese Möglichkeit wurde zur Entlastung pflegender Angehöriger geschaffen. Gabriele war unschlüssig – sie war nicht mehr dauerhaft bettlägerig und konnte sich weitestgehend selbst versorgen. Ich dachte, dass ich durch Pflegetätigkeit nicht entlastet werden müsse und stimmte Gabriele darauf ein, nach Hause zu kommen. Gabriele war zaghaft einverstanden. Sie hatte Sorge mich zu belasten, freute sich aber sichtlich. Die Ärzte waren überrascht und fragten: „Schaffen Sie denn das?“ Ich sagte, dass das mein Ziel sei und ich es versuchen wolle.

Ich organisierte die häuslichen Notwendigkeiten, stellte einen Antrag auf Hilfsmittel, auf einen Pflegegrad, sorgte für die wichtigen Medikamente, nahm Kontakt zum Hausarzt und Palliativmediziner sowie zum Ambulanten Hospizdienst auf. Nun war Alles für Gabrieles „letzte Station“ vorbereitet, die für 8 Wochen ihr letztes Zuhause in unserem „Nest“ sein sollte.

Gabriele verbrachte die meiste Zeit der Tage auf dem Liegesessel im Wohnzimmer, war selbstständig bei ihrer Körperpflege und mit Hilfe eines Rollators in der Wohnung beweglich. Hin und wieder half ich ihr beim Waschen, hatte das Gefühl, dass es ihr und mir gut tat. Ich hatte von ihr den Auftrag eine Sprachlern App auf ihr Smartphone zuladen. Sie wollte ihren Geist trainieren und auch täglich Zeitung lesen. Gabriele telefonierte mit Nahestehenden und sah auch Nachrichtensendungen im Fernsehen.

Wieder Daheim, Februar 2018

Wöchentlich kam Frau Schmid vom Ambulanten Hospizdienst zu ihr zum Gespräch. Es war für Gabriele ein regelmäßiger, willkommener Besuch, bei dem sie sich gedanklich öffnen konnte, ohne Sorge haben zu müssen, mich dadurch zu belasten. Zweimal wöchentlich bekam sie Physiotherapie und war dann stolz über noch vorhandene Beweglichkeit. Auch kamen ab und zu ihre Schwester oder eine Freundin. Ich nutzte die Zeiten der Besuche und ging dann raus und lief viel. Die Tage waren prall gefüllt mit Erledigungen: Medikamentenversorgung, einkaufen, Essenversorgung, Organisatorisches, Wäsche versorgen, Hilfestellungen für Gabriele. Gabriele brauchte viel Ruhe, schlief auch immer wieder im Sessel ein, zunehmend häufiger. Sie regte mich oft an etwas für mich zu tun, raus zu gehen, mich mit anderen zu treffen. Ich machte das auch öfter, fühlte mich dabei aber nicht wohl, obwohl ich auch zugeben will, dass es manchmal auch eine willkommene Flucht vor der Realität war. Denn so wirklich annehmen konnte ich Gabrieles nahendes Ende immer noch nicht. Ich verdrängte angstvoll, eigentlich bis zuletzt.

Am 15. März hatten wir einen ganz besonderen Tag. Der Standesbeamte kam zu uns nach Hause und traute uns. Wir waren sehr aufgeregt und bereiteten uns vor so gut es ging. Gabriele setzte ihre Perücke auf und ich half ihr dabei, etwas „Ordentliches“ anzuziehen. Das Zeremonielle war für uns alle bewegend, auch für den Standesbeamten. Am Abend bestellten wir uns zur Feier des Tages beim „Italiener“ Essen zu Hause.

In den Wochen ging es Gabriele zweimal gut genug für Ausflüge. Wir konnten noch 2x essen gehen und auch die Sonne am Rhein genießen. Gabriele sagte erstaunt zu mir: „Wie du das einfach so machst…“ Diese Zeit war eine besonders tiefe Begegnung für uns und alles war gut organisiert. Ich will aber nicht verschweigen, dass es auch Momente der Ungeduld, des Unwillens, ja, auch mal unfreundlicher Worte von mir gab. Auch des Ausweichens, z.B. Verharren am PC, statt bei Gabriele zu sein. Einmal sagte sie: „Komm doch zu mir“ – es dauerte ein Weilchen bis ich zu ihr ging.

Ich habe mich noch Monate nach Gabrieles Tod mit meinen empfundenen Unzulänglichkeiten belastet. Würde viel dafür geben, es gut machen zu können.

Ich bin mir jedoch gewiss, dass Gabriele mir nichts angelastet hat, ja, für meine Situation Verständnis hatte. Sie, die doch die Sterbende war, die gehen musste…

Sechs Tage vor ihrem Tod sagte Gabriele zu mir: „Ich kann nicht mehr“.

Von da an war sie nur noch im Bett, aß und trank wenig, sprach kaum noch. Gabriele wog weniger als 50 kg und so war Ihre Pflege für mich nicht schwer. Sie half mir trotz ihrer Schwäche sogar noch dabei. Am Ostersamstag, vier Tage vor ihrem Tod, aß sie ein Stückchen von ihrem begehrten Osterlämmchen und freute sich über die bunten Tulpen. Sie rief laut: „Ohhhhh“ und sagte zu mir: „Du bist so lieb zu mir“.

31. März 2018, Ostersamstag

In den letzten Tagen las ich ihr eine Erzählung vor, machte Fußmassagen, saß einfach nur neben ihr und streichelte sie. Manchmal sprach ich zu ihr, dankte ihr für ihre Liebe, entschuldigte mich für Versäumtes.

Am Ostermontag schauten wir abends zusammen „Tatort“ – Gabriele war wach dabei.

Dienstag, einen Tag vor ihrem Tod, schlief Gabriele fast den ganzen Tag. Nachmittags kam Frau Schmid und sagte zu Gabriele, dass der Ambulante Hospizdienst mir Unterstützung und Hilfe geben wird. Unerwartet erhob sich daraufhin Gabriele, weitete ihre Augen auf und sagte: „ ja, das will ich“. Dann meine hilflose Frage: „war es denn von mir nicht gut genug?“ Gabriele winkte mit entschlossener Geste zu mir ab, so als wollte sie sagen „Unsinn“. Das war unser letzter Dialog!

Am nächsten Tag mittags, im Beisein von Frau Wiedenlübbert vom Ambulanten Hospizdienst, während wir ruhig über Gabrieles Leben sprachen, starb Gabriele mittags. Es war ihr 72. Geburtstag. Ich nahm sie in den Arm und sprach in ihr Ohr: „Ich wünsche dir eine gute Reise in die andere Welt“. Ob Gabriele mich noch hören konnte? Wer weiß das schon….Sie sah ganz entspannt, wie erlöst aus – Frieden lag in ihrem Gesicht.

Am Nachmittag erwies ich Gabriele den letzten Dienst, wusch ihren Körper und kleidete sie ein. Ich wählte eine ihrer Lieblingsblusen, faltete ihre Hände und ließ sie die mitgebrachte Rose von Frau Wiedenlübbert umschließen.

Ich bin dankbar und froh, dass es möglich war, dass meine geliebte Gabriele in unserem „Nest“- dem Rückzugsort, versterben konnte, und ich bin überzeugt, dass es ihr tiefster Wunsch war.

Ich blicke in großer Dankbarkeit zurück, hatte das Beste, das es für mich gab und gibt.

Ja, Du bist immer mit DEINER Energie bei mir!

EIN LANGER ABSCHIED

Von Erika Niemann

Mein Mann war immer gesund! Davon waren unsere Kinder und ich auch überzeugt. „Wer hundert Jahre alt werden will, soll den Ärzten möglichst aus dem Weg gehen“, war immer seine Devise. Sein berufliches Engagement und seine vielfältigen technisch-wissenschaftlichen, geschichtlichen und musischen Interessen ließen ihm auch gar keine Zeit für Arztbesuche – wozu auch? Doch dann baute er plötzlich sehr ab, körperlich und zu unserem großen Erschrecken auch geistig. Er war inzwischen 79 Jahre alt, erst!

Nach einiger Überredungskunst war er dann doch mal bereit für eine gründliche ärztliche Kontrolle.

Zunächst wurde ein viel zu hoher Blutdruck festgestellt, der schon lebensbedrohlich war und alarmierende internistische Folgeerscheinungen erkennen ließ und dann auch noch der Beginn einer „Demenz vom Alzheimertyp“. Das traf unsere ganze Familie und auch unseren Freundeskreis wie ein Donnerschlag. Wo wird unser gemeinsamer weiterer Weg hinführen, und wie lang wird dieser Weg noch sein? Es wird sicher ein „steiniger“ Weg in Etappen werden. Das waren meine Gedanken, die mich von da an am Tag und in der Nacht quälten. Unsere Kinder konnten uns aus der Entfernung von 500 km wenig helfen. Ein Umzug zu unseren Kindern nach Bielefeld kam für uns nicht in Frage. Also waren jetzt meine Tatkraft und mein Organisationstalent gefragt.

Demenz rückt inzwischen immer mehr ins Bewusstsein unserer Gesellschaft, auch bei Medizinern und Pflegekräften. Alzheimer-Gesellschaft, Demenz-Kampagnen, Beratungsstellen für pflegende Angehörige, Tagespflegestätten und entsprechende Pflegeheime gab es ja 2012 schon längst.

Zunächst wollte ich meinen Mann aber zu Hause alleine betreuen und begleiten und ihn nicht von meiner Seite lassen. Er wurde auch immer anhänglicher. Zu meiner großen Sorge beobachtete ich bei ihm einen rasanten Abbau seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Seine zunehmende Hilflosigkeit verlangte mir immer mehr Kraft und unendliche Geduld ab. Feste Rituale halfen ein wenig bei der Alltagsbewältigung. Mit Musik konnte ich meinen Mann immer am besten erreichen. Er brauchte aber stets meine Aufmerksamkeit und ständige Aufsicht. Schließlich musste ich aber auch noch meine Hausarbeit erledigen und den Kampf gegen die Bürokratie besiegen. So musste ich endlich einsehen: Wir brauchen Hilfe, wenigstens stundenweise. Für den Haushalt und die Einkäufe fand ich für ein paar Stunden Hilfe, zum Teil sogar von lieben Freunden. Für meinen Mann organisierte ich einen Platz in der Tagespflegestätte der Caritas in Steinbach, zunächst für zwei Tage pro Woche. Er fand sich erstaunlich schnell damit ab und ging sogar gerne dort hin, sodass wir das Angebot nach und nach erweitern konnten. Unser Alltag lief also wieder einigermaßen geordnet ab. Aber sollte das der ganze Lebensinhalt sein?

Ich hielt es von Anfang an für richtig, mit der Krankheit meines Mannes offen umzugehen. Das hat sich bewährt. Ich wagte es also, unser Leben wieder lebenswerter zu gestalten. Wir nahmen wieder Einladungen von guten Freunden an, empfingen Besuch von Studienfreunden, gingen auch mal in unser Stammlokal und besuchten sogar ab und zu Konzerte. Natürlich war bei allen Unternehmungen meine Hilfe gefordert und ich musste bedenken: So bleibt es nicht.

Bei einem Beratungsgespräch wurde mir für uns ein stationärer Kuraufenthalt im Alzheimer Therapiezentrum in Bad Aibling empfohlen. Das Alzheimer Therapiezentrum der Schönklinik Bad Aibling ist das führende Reha-Zentrum in Deutschland für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Um die Familie auf das weitere Leben mit der Demenzerkrankung optimal vorzubereiten, wurden hier die Angehörigen stationär mit aufgenommen und eng in die Therapie mit einbezogen. Die Behandlung beruht auf gezielter medikamentöser Verordnung durch erfahrene Neurologen, die Förderung der Fähigkeiten und Ressourcen von Menschen mit Demenz und einer vielseitigen therapeutischen Unterstützung der begleitenden Angehörigen. Nach den entsprechenden Vorbereitungen fuhren wir im November 2013 für drei Wochen nach Bad Aibling. Das Ergebnis war für meinen Mann ein voller Erfolg und für mich viel Gewinn für unser weiteres Leben. Allerdings kam ich etwas erschöpft nach Hause zurück, denn ich hatte dort wieder die gesamte Pflege für meinen Mann zu bewältigen. Pflegepersonal gibt es in dieser Klinik nicht.

Alle machten sich nun Sorgen um meine Gesundheit. Eine Kur wurde mir empfohlen. Mein Mann sollte in dieser Zeit zur Kurzzeitpflege in einem Pflegeheim untergebracht werden. Für mich unvorstellbar! Meinem Mann wollte ich das nicht zumuten, und ich hätte mich unter diesen Umständen nicht erholen können. Also suchte ich nach einer anderen Lösung. „Gemeinsam in den Urlaub und gestärkt zurück in den Pflegealltag“, las ich im „Alzheimer Info“, das mir als Mitglied inzwischen regelmäßig zugeschickt wurde. Nach einigen Recherchen buchte ich dann unseren gemeinsamen Urlaub in Bad Peterstal. Hier gibt es das „Gesundheitshotel“ mit angeschlossenem stationärem Pflegeheim und einer Tagespflege. Ich buchte für zwei Wochen Hotel für uns beide und Tagespflege für meinen Mann. Nach vielen Vorbereitungen reisten wir dann im Juni 2014 per Taxi ganz bequem und stressfrei in unseren gemeinsamen Urlaub. Mein Mann respektierte mein Bedürfnis nach Erholung und lebte sich in der fremden Umgebung schnell ein. Während ich ihn wenigstens an den Werktagen für ein paar Stunden in guter Obhut wusste, genoss ich in dem schönen Hotel und in der Umgebung meine Freizeit. Ausgeruht verbrachten wir die Abende und die Wochenenden gemeinsam und erholten uns beide und zwar zusammen, das war uns wichtig.

Nach unserer Rückkehr standen schon wieder einige erfreuliche Termine an. Wenn ich jetzt im Nachhinein in unseren alten Kalendern Rückblick halte, staune ich sehr darüber, wie viel wir damals noch gemeinsam unternehmen konnten, trotz Fortschreitens der Krankheit. In meinen Erinnerungen überstrahlen die schönen Tage zu meinem Glück und Trost die weniger schönen Tage und Nächte.

Unser Alltag lief also wieder mit Höhen und Tiefen ab, mit Lachen und Weinen.

Nach meinen guten Erfahrungen mit unserem „Tandemurlaub“ plante ich mutig bald wieder eine gemeinsame Urlaubsreise für den nächsten Sommer. Meine Wahl fiel auf Konstanz am Bodensee. Ich buchte für zwei Wochen unsere gemeinsame Unterkunft in dem schönen Inselhotel. Nun musste ich noch einen Platz für meinen Mann in einer geeigneten Tagespflegestätte finden. Über den dortigen Pflegestützpunkt erfuhr ich entsprechende Adressen. Nach der Erkundung der Lage zum Hotel nahm ich mit einer Leiterin telefonisch Kontakt auf und bald war alles so weit geregelt. Nach vielen Vorbereitungen reisten wir im Juni 2015 voller Vorfreude nach Konstanz und fanden alles zu unserer vollen Zufriedenheit vor. Mein Mann wurde sehr herzlich in der Tagespflegestätte empfangen und wurde dann von Montag bis Freitag am Morgen von einem Fahrdienst am Hotel abgeholt und am Nachmittag wieder gebracht, also beinahe wie gewohnt. Es klappte gut! Ich genoss bei herrlichem Wetter wenigstens stundenweise meine Ferien. An den Wochenenden machten wir sogar kleine Ausflüge mit dem Schiff. Wir hatten zusammen Spaß und erholten uns prächtig, und ich kam gestärkt für die kommende Zeit nach Hause.

Nach unserer Rückkehr stand für meinen Mann der Umzug in die neu erbaute Tagespflegestätte in Baden-Baden an. Seine ihm liebgewordenen Betreuerinnen, seine „Engel“ traf er dort wieder und so gab es keine Probleme. Auch hier begeisterte ihn am meisten wieder die Musik und das gemeinsame Singen und Tanzen. „Die Gedanken sind frei…“ wurde zu seinem Lieblingslied und ist bis heute mit ihm verbunden bei allen, die ihn kennen.

Mit viel Freude feierte er die Faschingsfeste mit, zu denen er sich von mir gerne kostümieren ließ. Da tauchten wohl Erinnerungen an unsere früheren gemeinsamen Faschingsbälle auf.

In meiner Euphorie buchte ich für den Sommer 2016 wieder einen Urlaub in Konstanz, wie gehabt. Doch da hatte ich nicht eingeplant, dass die Krankheit meines Mannes bis dahin weiter fortgeschritten war. Dieser Urlaub 2016 war keine Erholung mehr, sondern entwickelte sich für uns beide zu einer Katastrophe. Das sollte unser letzter gemeinsamer Urlaub sein. So musste ich immer mehr Abstriche machen. Die Erinnerungen an schöne Urlaubstage bleiben aber und versöhnen mich.

Inzwischen wurde der Alltag für uns immer grauer und für mich immer schwieriger zu bewältigen. Bei meinem Mann schritt nicht nur die Demenz fort, sondern auch seine Niereninsuffizienz und, was besonders tragisch war, seine Sehkraft ließ immer mehr nach. Unser Haus mit Treppen und Podesten wurde für ihn immer gefährlicher, trotz all´ meiner Hilfen. So mussten unsere Kinder und ich uns schließlich schweren Herzens für einen vollstationären Aufenthalt in einem Pflegeheim entschließen. Das hat mich viele Tränen und schlaflose Nächte gekostet.

Erstaunlich schnell habe ich für meinen Mann einen Platz im neuen Vincentiushaus in Baden-Baden gefunden, in unmittelbarer Nachbarschaft der Tagespflegestätte, seines bisherigen Domizils. Das Haus machte auf mich einen guten und vertrauenswürdigen Eindruck. Das Konzept mit kleineren, überschaubaren Wohngemeinschaften gefiel mir besonders gut. Unsere Kinder kamen, um mir beim Umzug zu helfen und mit Vertrautem von zuhause sein Zimmer heimelig zu gestalten. Leider erkannte er unsere Kinder inzwischen nicht mehr. Meine Nähe war ihm nach wie vor sehr wichtig. Nachdem er eingezogen war, machte ich mich also täglich vom Klostergut aus mit dem Bus auf den Weg zu ihm. Die neue Situation fiel uns beiden zunächst sehr schwer. Nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten überwunden waren, lebte mein Mann sich aber auch hier bald ein und ich empfand allmählich Erleichterung. Mein Mann wurde sehr professionell und liebevoll versorgt, auf seine Ernährung wurde hinsichtlich seiner Nierenerkrankung verantwortungsvoll geachtet, und ich musste mich nicht mehr mit der kräftezehrenden körperlichen Pflege verausgaben, sondern konnte die gewonnene Zeit mit meinem Mann so unbeschwert wie möglich verbringen. Durch meine regelmäßigen Besuche gehörte ich bald zu „seiner“ WG. Wir trafen uns mit seinen Mitbewohnern bei Tisch oder spielten und sangen zusammen und besuchten die Veranstaltungen im Haus.

Natürlich kamen auch wieder schwere Zeiten. Im Herbst 2018, also eineinhalb Jahre später, wurde er plötzlich derartig aggressiv, dass es mir schwerfiel, ihn zu lieben und weiterhin geduldig zu begleiten. Wir brauchten medizinische Hilfe.

Inzwischen weiß ich, dass so eine Phase oft der Anfang vom Ende ist. So war es auch bei meinem Mann. Nach einiger Zeit erkannten wir die von mir so gefürchteten Anzeichen einer beginnenden Sterbephase. Von nun an wich ich Tag und Nacht nicht mehr von seiner Seite. Das Pflegepersonal, unser Hausarzt und die Alltagsbegleiterinnen standen uns beiden sehr fürsorglich bei. Ich erlebte zehn Tage und zehn Nächte zusammen mit meinem geliebten Mann eine besonders innige Nähe. Als das Sprechen schon nicht mehr möglich war, erreichte ich ihn immer noch mit leiser Musik und dem Singen vertrauter Lieder. Mein Händedruck auch während der Nächte und meine Umarmungen wurden von ihm liebevoll und dankbar erwidert und so wusste ich, er nimmt mich wahr, er genießt die Nähe. Geistlichen Beistand von Herrn Pfarrer Zimmer gab uns beiden viel Kraft und Trost. Abschiedsbesuche von engsten Freunden und von Wegbegleiterinnen aus der früheren Tagespflegestätte zeigten mir eine hohe Wertschätzung meines lieben Mannes. Ich empfand das als sehr berührend und tröstlich. In dieser Zeit lernte ich auch die wunderbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Ambulanten Hospizdienst Baden-Baden kennen. Sie haben mir in dieser schweren Zeit liebevoll beigestanden und haben mich auf großartige Weise begleitet. Wir haben miteinander getrauert und haben miteinander gelacht und sie haben mich an die Hand genommen, bis mein Mann genau an unserem 57. Hochzeitstag friedlich eingeschlafen ist. Diese letzten zehn Tage und zehn Nächte an der Seite meines Mannes werden mir immer unvergesslich bleiben. Diese Erinnerung gibt mir jetzt viel Trost und viel Kraft, meine Trauer zu bewältigen. Ich bin dankbar, dass ich diesen letzten Abschnitt unseres langen Abschieds so erleben konnte und durfte. Allen, die mir beigestanden haben, möchte ich an dieser Stelle nochmals herzlich danken. Allen, die einen ähnlichen Weg gehen müssen zusammen mit einem geliebten Menschen, wünsche ich viel Mut und viel Kraft.

Beinahe sieben Jahre habe ich meinen Mann während seiner Krankheit durch alle Höhen und Tiefen begleitet. Dabei habe ich erlebt und gelernt, dass ein Leben mit einem dementen Menschen durchaus lebenswert ist, sogar schön und fröhlich sein kann und manchmal innige Nähe schenken kann.

SO MÖCHTE ICH AUCH MAL HEIMGEHEN DÜRFEN

Von Margarete Alfer

Es war eine besondere Begleitung. Die Oma befand sich auf dem letzten Weg. Ich begrüßte die Anwesenden: Tochter mit Ehemann und die zwei Enkelinnen im Alter von etwa drei und fünf Jahren. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, war mein Eindruck, die Oma ist bestens umsorgt. Die Kleinen saßen wie Putten auf Omas Bettkante. Nun war mein Plan zu gehen, um mich den anderen Bewohnern der Station zuzuwenden, bot jedoch an, wenn notwendig gerne zurückzukommen. Der Vorschlag wurde kategorisch abgelehnt mit dem Argument, es könnten Fragen oder Situationen auftreten. Ich blieb.

Der Oma traten Schweißperlen auf die Stirn und Wangen. Die Fünfjährige nahm ein Taschentuch und trocknete behutsam Stirn und Wangen. Sie sagte: „Gell, Oma, das ist ganz schön anstrengend, wenn es so steil hoch geht.“ Nun sah sich die Dreijährige auch gefordert, nahm die Tasse Tee und den Löffel und bot ihr Tee an mit dem Satz: „Und Durst bekommt man dann auch.“ Ich bat sie, nur wenig zu geben, damit sich die Oma nicht verschlucken könnte. Das wurde brav befolgt. Sie ließ die Tropfen Tee auf die Lippen träufeln mit den Worten: „Oma, ich gebe dir wenig Tee, damit du nicht auch noch husten musst.“ Diese Szenen wiederholten sich einige Male. – Dann setzte die Atmung nach einem tiefen Einatmen aus.

Die großen Kinderaugen schauten eher ratlos durch die Runde. Ich trat ans Bett, legte die Hand auf die Stirn und sagte: „Jetzt darf die Oma tief schlafen und sich ausruhen.“ „Und schwitzen brauchst du jetzt auch nicht mehr“, kam aus dem Kindermund. „Und hast auch keinen Durst mehr“, ergänzte die Dreijährige. Noch immer etwas ratlos saßen die Kinder da. Dann beugten sie sich über die Oma und gaben ihr Küsschen auf die Stirn und Wange. Still und tief beeindruckt verließ ich das Zimmer mit dem Gedanken:

In solch einer liebevollen Umgebung möchte ich auch mal heimgehen dürfen!